Es ist Sonntag, Sonntag der 4. Mai 1919. Kühl ist es draußen. Also legt unser Protagonist, nennen wir ihn Balthasar Nagy, nicht nur seinen besten Anzug an. Den Mantel seines Bruders hat er noch; etwas löchrig ist er, aber er wärmt. Im Oktober ist der Bruder an der Spanischen Grippe (1) gestorben. Fronturlaub.

Balthasar Nagy und hunderttausende mehr machen sich auf den Weg und sie werden zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Der Wiener Gemeinderat wird gewählt. In der ersten allgemeinen Wahl. Das Ergebnis wird überraschen. (2)

 

Wobei, überraschen sollte gar nicht so sehr die Tatsache, dass die Sozialdemokratie als Wahlsieger hervorgehen würde, wohl aber das Ausmaß des Erfolges: 54%, die absolute Mehrheit(3). Stimmenstärkste Partei nämlich, war die SDAP schon vor dem Weltkrieg gewesen, das Kurienwahlrecht(4)  aber hatte eine adäquate Repräsentation im Rathaus verhindert, darüber hinaus waren etwa 80% der in Wien Lebenden gar nicht zur Wahl zugelassen. So konnte noch 1912 die Christlichsoziale Partei - jene, der Karl Lueger (1844-1910) über zwei Jahrzehnte den Stempel aufgedrückt hat; und den Antisemitismus - 82% der Mandate besetzen; bei einem Stimmenanteil von lediglich 42%.

 

Mit dem Jahr 1919 änderte sich alles schlagartig - die Rechtslage und somit die Machtverhältnisse. Jeder, älter als 20 Jahre mit ordentlichem Wohnsitz, ob Mann, ob Frau durfte seine Stimme abgeben, was den Anteil der Wahlberechtigten auf knapp über 60% erhöhte(5). Einziger Wermutstropfen: Die geringe Wahlbeteiligung von knapp 61%. Sollte das der wahre Grund für den Wahlerfolg sein?(6) Es war dringend nötig, die angekündigten Reformen rasch umzusetzen. Einziges Problem: Die meisten Programme stammten aus einer Zeit, als noch Kaiser Franz Joseph am Thron gesessen war und das Reich mehr schlecht als recht zusammengehalten hatte, einige der Programmentwürfe waren noch mit dem Datum des Gründungstages der SDAP versehen: Hainfeld, 1. Januar 1889. Guter Rat war also teuer, Antworten auf die brennenden Fragen des Jahres 1919 eher rar. Die wirtschaftliche Situation war verheerend, die Menschen hungerten. Verhungerten(7). Die Kohlelieferungen aus Böhmen waren eingestellt, Wohnungen blieben kalt, Industrieanlagen standen still. Die Bauern konnten weder ausreichend produzieren noch liefern, die Rüstungsproduktion an der Peripherie der Stadt war zusammengebrochen, eine Anpassung an die neue Situation nicht in Sicht. Für die Wiener war nicht nur die Monarchie zusammengebrochen, sondern die Welt.

 

Balthasar Nagy ist auf dem Weg nach Kaisermühlen. Zwei Stunden wird er unterwegs sein. Zu Fuß. Er will versuchen, im Kübeldorf(8) etwas Milch zu ergattern, der Novak Schani hat ihm zugesagt, seine Beziehungen spielen zu lassen. Mal sehen, was er ausrichten kann. Vor fast 20 Jahren hat sich der Novak der Siedlungsbewegung angeschlossen. Damals noch am Rosenhügel. Der Novak hat Karriere gemacht, leitet jetzt die Sektion in Kaisermühlen. Zwei Stunden: viel Zeit, um sich Gedanken zu machen über die Zukunft.

 

Außerparlamentarische Opposition und Massenproteste, die beiden treibenden Kräfte der Vorkriegszeit funktionieren nicht mehr. Was bleibt ist die Massenbasis, organisiert in Vereinen: ARBÖ (Arbeiter-Radfahrer-Bund Österreichs), Kinderfreunde, Naturfreunde, Lesezirkel, Bildungsvereine, Verbrauchergenossenschaften. Und die Führungsebene.

Zwar ist Victor Adler, die sozialdemokratische Gallions- und Integrationsfigur 1918 gestorben, auf Stadtebene sollte Jakob Reumann - seit 1900 im Gemeinderat verankert - Bürgermeister werden. Ein gelernter Drechsler, einer aus der Arbeiterschicht also. Reumanns Meisterstück wird die Ernennung Hugo Breitners zum Finanzstadtrat sein; ein Bankier, ein Bürgerlicher. Schnell sollte er von den Christlichsozialen als Verräter identifiziert und zu deren beliebtestem Hassobjekt werden. Die Strategie Reumanns jedenfalls sollte fruchten. Innerhalb weniger Jahre wird die SDAP die Unterstützung bürgerlicher Intellektueller erfahren. Alma Mahler-Werfel, Franz Werfel, selbst Sigmund Freud und Thomas Mann sollten sich als Befürworter des Roten Wien deklarieren. Julius Tandler, ein Chirurg, der sich dem Kampf gegen Tuberkulose und Krebs verschrieben hat und weltweit als Koryphäe gilt, wird 1920 von der Bunderegierung als Gesundheitsstadtrat ins Rathaus wechseln. 

 

Eigentlich a Jud, wird sich Balthasar Nagy dann denken. Er hat ja nichts gegen die Juden, aber der Lueger hat schon recht gehabt: wo man hingeht, nichts als Juden.

 

Da hinten steht er, der Novak, die Milchkanne in der Hand.

„Und? Hast meine Schuhe mit?“

„Hab erst heut die Sohlen gekriegt, muss sie von Stiefeln runter nehmen und zuschneiden“, etwas Verlegenheit schwingt mit in der Stimme des Balthasar Nagy.

„Na, macht nix. Am Freitag brauch ich sie, weißt eh. Treffen im Verlag. Der Neurath wird dort sein. Weißt was, kommst einfach am Freitag vorher zu mir und dann nehm ich dich mit. Wird Zeit, dass du einmal ein paar Leut kennen lernst.“

Seit er denken kann, ist er mit den Arbeitern mitmarschiert, hat sogar ‚Das Kapital‘ gelesen, damals im Lesezirkel. So richtig engagiert aber hat er sich nie. Es wird Zeit, denkt er, der Balthasar Nagy.

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(1) Spanien war es gelungen, sich aus dem 1. Weltkrieg herauszuhalten. Folglich bestand – anders als in allen kriegsführenden Staaten - kein Interesse, die, von US-Soldaten eingeschleppte Influenza zu verheimlichen und so wurde sie in spanischen Zeitungen erstmals erwähnt. In Wien fielen ihr offiziell etwa 4.600 Menschen zum Opfer.  Unter Berücksichtigung der Folgeerkrankungen wird von mindestens 10 Tausend Todesfällen ausgegangen, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, zumal die Lungentuberkulose kursierte. Der Höhepunkt der Epidemie lag im Oktober 1918 (Egon Schiele stirbt am 31.Oktober).

(2) Statistiken der Stadt Wien, Amtsblatt 14.Mai 1919, Broschüre: Das Rote Wien in Zahlen 1919-1934; ISBN 978-3-901945-32-8

(3) Vorerst Wahl eines Exekutivausschusses (30 Personen), 1. Juni 1920 (Wien ist mittlerweile Bundesland mit neuem Statut): Wahl des Stadtsenats (10 amtsführende, 3 nicht amtsführende Stadträte).

(4) Während auf Reichstagsebene seit 1907 das allgemeine Wahlrecht für Männer herrschte, war das Wahlrecht auf Gemeinde- und Landesebene sehr viel restriktiver: Hier war eine Mischung aus Zensus-, Privilegien- und allgemeinem Wahlrecht in Kraft - Grundbesitz, Steuerleistung und Bildung wurden massiv bevorzugt. Die Wähler wurden bezirksweise je nach Steuerleistung bzw. Status in drei Wahlkörper eingeteilt. 1900 wurde ein 4. Wahlkörper installiert, in dem alle anderen Männer (also Arbeiter und KLeinbauern) über 24 Jahren, die seit mindestens drei Jahren permanent in Wien sesshaft gewesen waren zusammengefasst wurden. Die Wähler der ersten drei Wahlkörper verfügten über eine Zweitstimme im 4. Wahlkörper. Auch die Mandatsbestimmung war derart gestaltet, dass die Stimmen der ersten drei Wahlblöcke überbewertet wurden: So hatte der 4. Wahlkörper (etwa 250.000 Wähler) über 21, die anderen drei (gesamt etwa 120.000 Wähler) über insgesamt 144 Mandate zu bestimmen. Legt man diese Zahlen zugrunde, war die Stimme eines vermögenden Unternehmens etwa 13-mal so gewichtig wie die eines Arbeiters oder Kleinbauern. Darüber hinaus schloss die Sesshaftigkeitsklausel ohnehin schon einen Großteil der Arbeiterschaft aus.

(5) Das entspricht etwa dem heutigen Prozentsatz; die Reduktion des Wahlalters und die Erhöhung des Ausländeranteils auf etwa 30% heben sich hier auf. 1969 lag der Prozentsatz bei 80%; Wien galt als ethnisch homogen und als die älteste Hauptstadt der Welt. (pers. Anmerkung: Noch 1986, das Jahr als ich nach Wien kam, präsentierte sich die Stadt eher als schlafendes Freilichtmuseum, denn als Metropole. Ein Eindruck, der sich glücklicherweise zum Positiven gewendet hat).

(6) 1923, bei einer Wahlbeteiligung von 91% erreicht die Sozialdemokratie einen Stimmanteil von 56%.

(7) Die Wiener mussten durchschnittlich von 1270 Kalorien pro Tag leben, etwa der Hälfte dessen, was ein Mensch benötigt. Der Industrieausstoß erreichte 30% des Jahres 1913, die Agrarproduktion überhaupt nur 50%, das BNP war um 34% geschrumpft; von Dezember 1918 bis Mai 1919 vervierfachte sich die Zahl der Arbeitslosen (Ernst Hanisch in „Der lange Schatten des Staates“ 277ff; Geschichte Österreichs, 1994.)

(8) Kübeldörfer wurden jene Brettldörfer genannt, in welchen Ziegen (Eisenbahnerkühe) zur Milchgewinnung gehalten wurden. Brettldörfer waren Siedlungen, die in Eigenregie - also im Grunde illegal, aber größtenteils von der Gemeinde geduldet – an der Peripherie errichtet wurden. Die Frage, welche Bauform (Siedlungen oder Arbeiterburgen) finanziert und gefördert werden sollte wird die Sozialdemokratie in den ersten Jahren der Zwischenkriegszeit nicht nur begleiten, sondern zu intensiven Diskussionen und Spannungen führen.